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Buchtipp

Elena Fischer
Paradise Garden

Die junge Autorin hat mit ihrem Erstlingswerk ein wunderbar leicht zu lesendes Buch veröffentlicht. Nicht nur leicht, sondern so, dass sich die Leser diesem Roman kaum entziehen können, überdies könnte der Eindruck entstehen, es handle sich um eine Autobiografie. Elena Fischers Roman wurde für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert.
Protagonistin ist die 14-jährige Billi, die mit ihrer Mutter Marika in einer Hochhaussiedlung, einem sozialen Brennpunkt eines Stadtteils, lebt. Gebürtig sind beide aus Ungarn und dort lebt noch die oft gewalttätige und daher ungeliebte Großmutter mütterlicherseits. Vieles ist für Mutter und Tochter unerreichbar und so versuchen sie, den Alltag zu meistern. Da wundert es nicht, dass beide die Stadt, den Rhein und das größte Kaufhaus der Stadt als etwas Großes, Spektakuläres erleben.
Die Schullaufbahn der in gewisser Weise zielstrebigen Billi scheint unspektakulär zu sein, dagegen wird deren Mutter als unangepasst erlebt, sie bewältigt den Alltag, ihr Leben, quasi jonglierend – denn: Verluste führen oft dazu, nie irgendwo richtig anzukommen. Tröstlich sind nette, junge, überaus hilfreiche Nachbarn.
In diese kleine, irgendwie friedliche Welt bricht zu Beginn der Sommerferien der unerwartete Besuch der ungarischen Großmutter ein, die den Unfalltod der Mutter und Billies merkwürdige, fast unglaubliche Reise mit einem kaputten TÜV-losen Auto an die Nordseeküste – ins Schleswig-Holsteinische? – verursachen wird. Herrndorfs Roman »Tschick« klingt an. Die Autofahrt gilt der Suche nach dem leiblichen Vater. Hartnäckig stellt sich die Jugendliche allen Widrigkeiten, kontaktfreudig und mutig findet sie die richtigen Personen. Alles wird trotz allem vermeintlich gut.
Aber der Roman zeigt auch eine andere Ebene. Marikas Verhalten deutet auf eine nicht bewältigte, sie traumatisierende Vergangenheit – zeigt im Grunde ein Sich-Abschotten von der Realität und einen planlosen Alltag – wenn auch oft für die Tochter fantasievoll gestaltet. Sie spaltet im Alltag nicht nur ihre Kindheitserfahrungen ab und kann so überaus schmerzliche Erinnerungen vermeiden. Sichtbar wird, wie Billis Identifizierung mit dem Leid der Mutter die eigene Entwicklung zu bremsen scheint. Insgesamt aber erleben die Leser die jugendliche Protagonistin als stark. So dürfte das Mädchen trotz allem immer Personen um sich gehabt haben, die sie versorgten und liebevoll betreuten: ihre Resilienz-Faktoren. Erkennbar wird dies, als sie im hohen Norden auf den vermeintlichen Vater trifft, bei dem sie wohl als Kleinkind längere Zeit gelebt hat.
Fischers Roman nimmt den Lesenden mit – aber er ist keinesfalls nur leicht und witzig wie ein Roadmovie.

EG



Simone Lappert
Der Sprung
Diogenes Verlag 2019
231 Seiten

Mainz liest auch im Jahr 2024 ein Buch – diesmal den von der Schweizer Schriftstellerin Simone Lappert verfassten Roman Der Sprung. Er erschien am 1. September 2019 im Diogenes Verlag.

Die Lesenden erleben mit etlichen anderen sieben hervorgehobene Charaktere. Man könnte meinen, es handle sich um sieben Kurzgeschichten – aber nein, denn alle verbindet das gemeinsame Leben in der kleinen Stadt Thalbach.

Innerhalb von drei Tagen erleben diese Personen ihr Städtchen im Ausnahmezustand. Die ihnen bekannte junge Manu steht auf einem Hausdach und schreit. Sie wird springen, ein Narr, wer etwas anderes annähme.

Jede Person im Umkreis des Ereignisses ist von Neugier und Sensationslust getrieben, einer faszinierenden Lust am Schrecken - unglaublich, dass diese hungrig und durstig macht. So hat das Kaufsmannspaar endlich seinen großartigen Umsatz; das kleine Café am Platz ist überhaupt der Ort. Seine Inhaberin Roswitha kennt nahezu alle und deren Geschichten, überdies bieten die Caféstühle Plätze im ersten Rang.

Nach kurzer Zeit zieht das Buch einen - trotz der gewöhnungsbedürftigen Erzählweise - in den Bann. Man leidet mit Felix, dem Polizisten, lernt Maren die Schneiderin kennen, ebenso Egon, den Schlachter, aber eigentlichen Hutmacher, und Finn, den glücklosen Fahrradkurier – Freund der Manu auf dem Dach. Ebenso zählen Manus Halbschwester Astrid, der obdachlose Henry, das Kaufmannspaar Theres und Werner und etliche andere dazu. Deren Leben und derenTräume, Erinnerungen und Hoffnungen, Aggressionen und ein Sichaufgeben verbinden sich mit dem nicht endenwollenden Verhalten der Manu auf dem Hausdach. Denn Manu fesselt und frustriert die Schaulustigen, nicht zuletzt weil sie - ziemlich ungewöhnlich für potenzielle Selbstmörder - schreiend und balancierend mit Dachpfannen wirft.

Die nach einzelnen Figuren benannten Kapitel vermitteln ein Stimmungsbild über die eigentlich rätselhafte Dramatik eines jäh über sie hereingebrochenen Geschehens. Urplötzlich werden Verbindungen und Beziehungen zwischen diesen Personen sichtbar und zugleich rührt das Ereignis bei fast allen an lange verdrängte sie traumatisierende Erlebnisse. Es sind sichtlich nicht arrivierte enttäuschte Menschen – unvollkommen, defizitär und einsam. Die Cafébesitzerin Roswitha bringt es am Ende im Gespräch mit der auch zutiefst traumatisierten Lokführerin Edna gelassen auf den Punkt (S.269) "Zwei Schildkröten sind wir, dachte sie. Einzelgängerinen, die am besten allein zurechtkommen, ohne Anhang. Nur ab und zu streifen wir uns, nicken einander wissend zu, das reicht."

Endlich kommt Astrid, Manus Halbschwester, steigt nach oben und kann im Gespräch mit der Schwester das "Warum" enträtseln. Manu springt nach vielen, schier endlosen Stunden heil in ein Sprungtuch und wird klinisch betreut.

Vieles wird danach nicht mehr wie vorher sein, was sein könnte, bleibt der Vorstellungskraft der Lesenden überlassen.


Annie Ernaux
Eine Frau
Suhrkamp, 4. Aufl. 2022

Annie Ernaux bekam als erste französische Schriftstellerin am 10. Dezember 2022 den Nobelpreis für Literatur verliehen. In ihrer Rede 1 in Stockholm sagte sie, ihr gehe es in ihren Büchern u.a. darum, den Zorn auf den diskriminierenden Umgang mit Frauen und die Wertschätzung des eigenen Körpers auszudrücken ... "darum, mich in das Unsagbare zu vertiefen, die verdrängten Erinnerungen, und die Lebenswirklichkeit der Menschen, unter denen ich aufgewachsen war, ans Licht zu bringen. Zu schreiben, um die inneren und äußeren Gründe zu begreifen, derentwegen ich mich von meiner Herkunft entfernt hatte."

Schon 1987 erschien in Frankreich das schmale Buch Eine Frau. Es entzieht sich nach dem Willen der Autorin jeder Kategorie. Ernaux sieht es nicht als Biografie, nicht als Roman, sondern eher als etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung (S. 88). Es ist etwas Alltägliches, ein berührendes Lebensbild der Mutter mit Tochter, eine Skizze des französischen Nachkriegsmilieu – und doch wird es in vielem unserem ähnlich gewesen sein. Das Alltägliche nimmt eine völlig andere Dimension an, wenn "der Satz" der Rede, also der Schlüsselsatz und damit die Lebensdevise der Preisträgerin deutlich wird: "Ich werde schreiben, um die Meinen zu rächen."

Ernaux wollte schon früh Schriftstellerin werden, um die soziale Ungerechtigkeit der Geburt zu tilgen, um die erlittenen Beleidigungen und Erniedrigungen zu kompensieren, um die Befreiung der Frau zu erreichen – auch heute noch. Weiterer Beweggrund ihres Schreibens war das eigene erduldete Leben. Sie wollte nur über eigene Erlebnisse schreiben, in nüchterner präziser Sprache. Insbesondere für all das hatte sie nun das Nobelpreiskomitee ausgezeichnet – für "ihren Mut und ihre klinische Scharfsinnigkeit, mit der sie die Wurzeln, Entfremdung und die kollektiven Zwänge persönlicher Erinnerungen aufdeckt."

Vor diesem Hintergrund verfasst Ernaux "Dreizehn Tage nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1986 - so der Klappentext des Buchs - ein kurzes, schmerzhaftes Requiem. Und lässt die Mutter als Repräsentantin einer Zeit und eines Milieus auferstehen, das auch das ihre war". Überdies geht sie ihre Themen in merkwürdig anmutender Weise an, denn sie beschreibt sich als Sezierende, als Archäologin in eigener Sache, als Ethnologin ihrer selbst. Dennoch liest sich dieser kleine Band leicht - auch wenn Wut, Ohnmacht und Verzweiflung spürbar sind und die Autorin begleiten. Es geht um Nöte und Konflikte der Kriegs- und Nachkriegszeit, um Armut und Beschränkungen, die Mühsal der Arbeiter und kleinen Kaufleute in einem unbedeutenden Ort der Normandie - aber nach dem 2. Weltkrieg geht es aufwärts. Die Eltern des Einzelkindes, bald Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens mit Kneipe und einem Auto, fördern Annie E. in vieler Hinsicht - soweit es Herkunft und Stand entspricht. Die Tochter jedoch konnte später, wie von der Mutter ersehnt, in die ihr selbst "verschlossene Welt der Wörter und Ideen" wechseln. Sie erkennt, dass "Welten liegen zwischen tatsächlicher Bildung und dem Wunsch nach Bildung (S. 53).
Dieses bestimmt oft frustrierende Spannungsfeld erinnernd schildert Ernaux ihre Beziehung zur Mutter. Es entsteht ein Bild von der Mutter und eines einer nicht ungewöhnlichen Mutter-Tochter- Beziehung: liebevoll, stressig, aufreibend und missverständlich, etwas zwischen Verstehen und Nichtverstehen, etwas, das sich mit zunehmender Ausbildung und dem Studium der Tochter (sogar in London) verstärkt,
Opferbereitschaft aufseiten der Mutter und Annahme bzw. Abgrenzung vonseiten der Tochter. Die Autorin dokumentiert trotz allem und über allem ihre unendliche Liebe und Fürsorge für die Mutter, Dankbarkeit und Verantwortung für die alternde und schließlich kranke Frau einhergehend mit Resignation und Unbehagen der Tochter darüber, den elterlichen Verhältnissen entwachsen zu sein.

Ein Fazit? Vielleicht das der Literaturkritikerin Sandra Kegel: "Annie Ernaux gelingt es in "Eine Frau", ihre Mutter gleichermaßen kompromisslos und zärtlich zu beschreiben, entlarvend und mitfühlend. Das lässt die ganze Ambivalenz dieser Mutter-Tochter-Beziehung greifbar werden, die sich im Laufe ihrer beiden Leben immer wieder neu sortiert hat". 2

Elke Grün

1 https://www.suhrkamp.de/video/die-nobelpreisrede-von-annie-ernaux-b-38922
2 Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.11.2019 , https://www.buecher.de/shop/paris/eine-frau/ernaux-


Stefan Moster
Neringa oder Die andere Art der Heimkehr
Mare Verlag, 2016, 288 Seiten, 20 Euro

Ein 50jähriger Mann in der Midlife crisis. Er kennt, wie auch Charlie Chaplin und Winston Churchill ihn nannten, den Schwarzen Hund, die Schwermut. Dieser namenlose Protagonist im Roman Neringa ist der, der den Lesenden unaufgeregt mit auf seinen nicht immer geraden Weg nimmt. Auf die Suche.

Der erfolgreiche IT-Mann lebt seit langem allein in London, in seiner Wohnung versorgt von der litauischen Putzfrau Neringa.
Er grübelt über sich, sein vermeintlich Sinn entleertes Leben nach; über das, was er einmal hinterlassen wird, über Schwermut und seine Wut, er tut dies wie so viele Autoren in der Mitte des Lebens - aber wunderbarer Weise anders. In Mainz geboren und aufgewachsen, sein Leben spielte sich zwischen Eltern und den väterlichen Großeltern ab, Vater Philipp und Großvater Jakob sind Holz-Pflasterer. So staunen wir darüber, dass weite Bereiche der Mainzer Innenstadt wie die Große Bleiche oder die Anlage vor der Christuskirche mit kleinen Holzblöcken in originellen Mustern gepflastert waren. Jakob und Philipp waren dabei. Aber der Großvater - unendlich ruhig und geduldig - wird manchmal ebenso wie der Enkel von einer unberechenbaren überaus großen Wut gepackt mit schlimmen Folgen. Einmal wäre fast die Großmutter zu Tode gekommen.

Aber all das ist dem Erzähler unendlich fern - bis er in London ins Kino geht und dort blitzartig an diese und andere Geschichten erinnert wird, so an eine Postkarte vom Mont St. Michel - der Großvater war als Soldat dort. In was wird er verwickelt gewesen sein? Dann die Familien-Berichte über die vielen, vielen Stunden auf dem einbeinigen Höckerchen, die Holz-Pflasterei ist mühsam; kaum vorstellbar, wie sich Vater und Sohn über Monate die Große Bleiche entlang arbeiten. Mit dieser Arbeit ist ein weiteres wichtiges Motiv des Romans verbunden, "das Trauma, dass eine "demütige, eigentlich gut gemeinte Arbeit"(1) des Großvaters zur Katastrophe führte ... . Als im zweiten Weltkrieg die Alliierten Mainz bombardierten, brach in genau diesen Straßen ein infernalisches Feuer aus, das viele Todesopfer forderte."

Der Erzähler beschließt, Mainz zu besuchen und den Spuren seiner Familie nachzugehen. Zu der Zeit wird er - als er einmal zufällig seiner Putzhilfe Neringa begegnet - gewahr, dass sich durch sie sein Alltag aufhellt. Neringa (2) ist Litauen entflohen und lebt das Leben wie sie es möchte. Das Aufräumen und Putzen dient nur dem Lebensunterhalt - auf keinen Fall aber einem tieferen Sinn. Wer und was ist sie?

So wechselt der Erzähler immer wieder die Perspektive, wir tauchen in die Mainzer familiäre Recherche ebenso ein, wie in die Stadtarchive. Dann wieder London, die Suche nach Neringa, die ihm zwar aufräumt - aber ohne jegliche Adresse oder Telefonnummer. Skurril mutet die Suche über die litauische Botschaft und die große litauische Community an, die Begegnung mit litauischen Basketballern und dann die große Freude: Neringa beim Figuren - und Schattentheater zu erleben und kennen zu lernen.

Ob die aufgetanen familiären Geschichten zuverlässig sind, ob die Überlieferungen der Wirklichkeit entsprechen, alles scheint nun keine allzu große Bedeutung mehr zu haben. Mit unserem Erzähler - so eine Kritik aus der Schweiz - sehen und begreifen wir, dass "mitten in der biografischen Sinnsuche, die der Autor virtuos mit deutschen Schicksalen vom frühen 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart verknüpft, (führt) die Begegnung mit einer jungen Frau aus Litauen zu einer ganz neuen Möglichkeit des Glücks im Hier und Jetzt."(3) führt.
Beurteilungen des Romans sind durchweg positiv - er sei leicht und locker, auch tiefsinnig. Ein gutes Buch (...) mit "der Gelassenheit einer einmaligen sprachlichen Schönheit".

Elke Grün

1 https://www.deutschlandfunkkultur.de/neringa-ein-erinnerungsbuch-stefan-moster-auf-den-spuren-100.html

2 Wikipedia "neria, nerge, neringia": Land, das auf- und abtaucht wie ein Schwimmer.
Der Legende nach geht der Name auf eine Riesin zurück, die zum Schutz der Küste
einen Wall aus Sand aufgeschüttet hatte. ... die Kurische Nehrung

3 https://www.orellfuessli.ch/autor/stefan+moster-342890/


Lizzie Doron
Der Anfang von etwas Schönem

Jüdischer Verlag, 2006
im Suhrkamp Verlag
Taschenbuch: 10,90 €

Lizzie Doron, geboren 1953, lebt in Tel Aviv und in Berlin. Sie studierte Linguistik. Ihr Roman Ruhige Zeiten wurde mit dem von Yad Vashem vergebenen Buchman-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk erhielt sie den Jeanette-Schocken-Preis 2007. In ihren Büchern verbindet sie persönliche mit fiktionaler Geschichte. In dem Doku-Roman Who the Fuck is Kafka (2015) beschreibt sie die Freund-Feindschaft zu einem palästinensischen Journalisten.

Der Anfang von etwas Schönem … verspricht Chesi seiner großen Liebe Malinka. Er will sie unbedingt heiraten und sie ihn auch. Doch er meint noch etwas anderes: In Polen möchte er die jüdische Kultur wieder beleben – zusammen mit Malinka. Sie reisen nach Paris – Malinka im Glauben, dass sie und Chesi dort heiraten werden. Die Sache mit Polen ist nicht ihr Ding. Voller Enttäuschung und Zorn kehrt sie allein zurück nach Israel, wo sie seit 30 Jahren als Amalia Ben Ami in einem Radiosender als Moderatorin beschäftigt ist. Sie fühlt sich von Chesi für seine Zwecke missbraucht. Und da ist noch Gadi, das Hinkebein. Gadi, mit dem niemand außer Malinka spielen wollte und der später in Amerika reich wird. Er träumt seit seiner Kindheit, dass er einmal Amalia heiraten wird. Selbst als er in der Ferne eine Familie gründet, schreibt er ihr noch Liebesbriefe.

Amalia, Chesi und Gadi schildern aus ihrer jeweiligen Perspektive ihre Kindheit, ihre Jugend und als Erwachsene ihre Gefühle und ihre gemeinsamen und getrennten Erlebnisse in einer jüdischen Welt. Dabei springen ihre Gedanken von der Gegenwart in die Vergangenheit, weil alles miteinander verbunden ist.

Der sehr unterhaltsame Roman handelt von Menschen, die in ihre Vorstellung vom Leben geliebte Menschen mit einplanen, die diesen Plänen aber nicht folgen wollen. Er handelt auch davon, dass die junge jüdische Generation auch als Erwachsene der Geschichte ihrer Eltern nicht entkommen kann, wo auch immer sie versucht, ihr eigenes Leben zu leben. Die Sprache ist direkt, manchmal sarkastisch, jiddische Zitate erinnern an die Vergangenheit, mit (jüdischem?) Humor werden die Menschen charakterisiert. Die Handlung ist berührend, aber niemals kitschig, aber auch nicht vorwurfsvoll oder belehrend. Menschen sind Menschen mit guten und schlechten Eigenschaften, einsam, talentiert, egoistisch, zornig, sehnsüchtig, verantwortungsvoll, mitfühlend, geprägt von ihrer Umgebung und von der Vergangenheit.

Hier eine Leseprobe:

Amalia

"Ab jetzt werde ich Amalia genannt", sagte ich zu Mutter, als in den Ferien aus dem Kibbuz nach Hause kam.
Sarke lachte. "Von mir aus, sollen sie dich dort so nennen", sagte sie. "Für deine Mutter, für Michaela, für mich und noch ein paar wichtige Leute bleibst du Malinka, da kann dich dein Bandit nennen, wie er will."
"Sarke, er ist kein Bandit", sagte Michaela zu meiner Überraschung. "Ich hab ein Foto von ihm gesehen. Er ist der schönste Junge von der Welt."
"Alle Mädchen wollen Boas, aber er liebt nur mich", erklärte ich.
"Weißt du", wandte sich Sarke beruhigend an Mutter, "dieser Boas wird sie nicht heiraten, sie gehört nicht wirklich zu ihnen. Bei uns in Przedborz hat man gesagt: Jeder Topf findet sein Deckelchen, aber sie ist nicht sein Topf."
"Doch, das bin ich", widersprach ich. "Und unser Kibbuz ist tausendmal mehr wert als dein Przedborz."

"Du bist das schönste Mädchen im Laden", sagte der Lebensmittelhändler Gerschtajn, und als er entdeckte, daß ich einen Büstenhalter trug, prophezeite er mir: "Alle Männer in ganz Israel werden dir nachlaufen." Sarke, die am Regal mit den Konserven stand, bemerkte seinen Blick und beschloß, daß man mich nicht mehr allein zum Einkaufen schicken durfte.
Gerschtajn ließ mich auch Jahre später nicht in Ruhe. "Malinka, sag doch mal im Radio was Nettes über Herrn Gerschtajn vom Lebensmittelladen", bat er. "Malinka, stimmt’s, daß wir am Ende heiraten?"
Ich ging hinein. Gerschtajn empfing mich mit einem glücklichen Lächeln. In meinen Augen hatte er schon immer ausgesehen wie ein Verwandter seiner Salzheringe, und jetzt, wo er alt wurde, roch er auch nach Hering.
"Haben Sie eine Hefeschnecke mit Zimt und Rosinen?" hörte ich mich zu meiner Überraschung fragen. Ich wußte, daß er schon seit Jahren keine Hefeschnecken mehr führte, doch auf einmal ergriff mich eine seltsame Unruhe, und ich leerte die Regale, belud den Einkaufswagen mit Käse, Joghurt, Würsten, Brötchen, Butterkeksen, Waffeln, Schokolade und Salzstangen.
Wieder nutzte er die Gelegenheit. "Malinka, sag doch mal im Radio was Nettes über Herrn Gerschtajn vom Lebensmittelladen … Und Malinka, stimmt’s, daß wir am Ende heiraten?"
Das ist also der Bräutigam, der mir geblieben ist, dachte ich erschüttert.
"Ausgeschlossen", erklärte ich ihm ein für allemal.
Herr Gerschtajn sank in sich zusammen und schwieg.

Martina Schilling


Iris Wolff
Die Unschärfe der Welt
nominiert zum Deutschen Buchpreis 2020

Iris Wolff, eine 1977 in Hermannstadt, Siebenbürgen, geborene Autorin, hat mit ihrem neuesten Buch Die Unschärfe der Welt einen besonderen Roman aus dem Banat vorgelegt - einer uns nicht mehr ganz so geläufigen Region, einer "historischen Region in Südosteuropa", heute aufgeteilt unter den Staaten Rumänien, Serbien und Ungarn.

"Die Unschärfe der Welt ist ein eminent poetischer Roman, der die ganze Klaviatur der sinnlichen und gedanklichen Erfahrungen ausspielt und gleichzeitig von politischer und historischer Wirklichkeit durchdrungen ist. Nimmt man noch die überaus originelle Erzählweise hinzu, kann man kaum glauben, wie leicht sich das trotzdem alles liest, wie vollkommen dieser kurze Roman ist" (Pascal Mattheus, Literaturkritik)

Ja, es ist ein Roman - leicht, dennoch tiefgründig und absolut lesenswert! Die Autorin versetzt uns in wenigen Kapiteln in eine vier Generationen umfassende Familiengeschichte, als es die DDR und den Ostblock noch gab und dann nicht mehr. In der ausgehenden Winterkälte des Banats wird Samuel als einziger Sohn des jungen Pfarrers Hannes und seiner Frau Florentine geboren. Das Banat war dem Pfarrer wie eine Strafe vorgekommen, "doch einem Ruf widersetzt man sich nicht". Fremd sind sie dort, dennoch führen sie ein ausgefülltes, begegnungsreiches Leben im Pfarrhaus, in dem sich die Sprache angesichts des Völkergemischs oft als unzulänglich erweist. Die Sprache macht es manchmal schwer, sich zu verstehen, Wörter und Erleben passen oft nicht zueinander - Wahrnehmung und Welt gehen auseinander. Wie wird es möglich, zu erkennen, was wichtig ist?

Mitten im Geschehen steht Samuel. In einer unaufdringlichen und bilderreichen Sprache - die Kritik spricht von "einem Zauberkunststück der Imagination", "so schön hat noch niemand Geschichte zum Schweben gebracht" - entsteht sein Leben. "Durch die Augen seiner Mutter, seines Vaters, seiner Großmutter, seiner ersten Liebe, zweier Freunde und seiner Tochter bekommt ihn der Leser in den Blick, präsentiert sich sein Leben gleichzeitig umfassend und fragmentarisch und am Ende steht er einem dennoch ganz klar vor Augen" (Pascal Mattheus s.o.) - daneben natürlich auch die anderen. Was auch geschieht: Die vier Generationen, diese sieben Personen, stehen füreinander ein, gerade auch in der dunklen, harten Zeit des Securitate Regimes mit täglichen Verleumdungen und Verhaftungen. Unberührt davon kommen und gehen die Jahreszeiten mit ihren Eigenheiten und den besonderen Sommern. Der junge Erwachsene Samuel erlebt seine erste und große Liebe, bringt dann aber ohne zu zögern seinen gefährdeten Freund über die Grenze nach Ungarn und folgt ihm nach Deutschland. Nach Jahren mit dem Zusammenbruch des Ostblocks kehrt Samuel zurück und gründet seine eigene kleine Familie. Von den übrigen Personen finden etliche in Deutschland eine neue Heimat. Für die anderen geht das Leben im Banat weiter, ja es bleibt im Banat nahezu stehen. Samuel aber lebt schließlich mit seiner Frau und zwei Kindern in Deutschland, er ist sich treu geblieben - eine gewinnende und integre Figur in einer Welt, in der ihm nichts mehr fremd zu sein und sich die Differenz zwischen Wort und Welt angenähert zu haben scheint.

Elke Grün


Benedict Wells
Fast genial

Wer im Roman von Benedict Wells große Literatur erwartet, wird enttäuscht, taucht aber in eine leicht lesbare, »unterhaltsame Roadstory« (D. Wunderlich) ein. Drei Jugendliche: Der 17-jährige Francis, dessen einziger Freund, der Nerd Grover Paul und die der Klinik »entlaufene« Anne May machen sich auf, den biologischen Vater von Francis in Kalifornien aufzutun. Sie tun dies auf der Suche nach einem weniger bedrückenden Leben, nach ihrer Identität, und folgen ihren Träumen.
Francis hochgradig depressive Mutter, mit der er im Trailerpark, einer ärmlichen Wohnwagensiedlung von Claymont in Delaware wohnt, ist in der Klinik. Sie hat ihm nie den leiblichen Vater benannt. Einzig Stiefvater und Halbbruder leben in New York. Nun erfährt er aus dem Abschiedsbrief der Mutter, dass er ein Kind künstlicher Befruchtung ist – aus einer Samenbank für Genies. Sein Vater ein Genie! Welche Hoffnungen erwachen im bislang so glücklosen Jungen? Ein Kind eines solchen Samenspende-Programms birgt im Prinzip alle Chancen – vor allem auch die Aussicht auf Erfolg im Leben. Vielleicht ist dies die Chance, auf die er schon lange gewartet hat?
Ein interessantes, kurzweiliges Buch mit überraschendem Ausgang.

EG


Edgar Selge
Hast du uns endlich gefunden

Viele Schauspieler haben Romane und Autobiografien geschrieben – nun also nach Vollendung seines siebenten Jahrzehnts auch Edgar Selge. Etwaige Skepsis verliert sich beim Eintauchen in seine frühe Lebensgeschichte schnell.
Der etwa 12-jährige Edgar erzählt, er nimmt uns ein und man versteht, man wundert sich und kommt nicht umhin, manches Mal zu staunen.
Mit seiner überaus lesenswerten, familien- und zeitkritischen Autobiografie rund 15 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg blickt er mit uns in seine besondere Kindheit.
Besondere deshalb, weil er – ebenso wie der Autor Joachim Meyerhoff – unmittelbar in und mit einer ungewöhnlichen Institution aufwuchs: Edgar auf dem Gelände einer Jugendvollzugsanstalt und Joachim Meyerhoff auf dem einer psychiatrischen Anstalt. Beide Väter bezogen ihre Familien als Direktoren dieser geschlossenen Einrichtungen oft in deren Alltag ein. Fraglos ein völlig anderes Aufwachsen der Kinder.
Für solch ein Kind ist Gelassenheit im Umgang mit »schwierigen« Menschen normal, es erwirbt eine andere Sicht auf die Welt und kommt so erzählend daher: Ruhig und oft stauend berichtet es über seinen und den komplexen familiären Alltag, über Schicksalsschläge und Alleinsein, über eigene Verwirrtheiten und das oft kaum verständliche, seltsame Verhalten der Eltern, über allzu häufige väterliche Schläge und weiteres übergriffiges Tun des Vaters – dessen eine Seite. Auf der anderen war der Vater ein äußerst musikalischer, energiegeladener Mann, ein begabter Pianist, der seinen Söhnen die Liebe zur Musik vermittelte, gemeinsam mit der jedoch nur musikliebenden – wie Edgar unterscheidet – Mutter.
Fünf hochmusikalische Jungen, die neben Schule und Musik natürlich das Abenteuer suchen. Einer der drei älteren Brüder verunglückt in der Nachkriegszeit und sein Tod trifft alle furchtbar, zerstört fast die Mutter. Wie und wo bewältigt der zweitjüngste Sohn Edgar all dieses?
»Der Sohn übersteht vernichtende Erfahrungen wie diese mit bemerkenswerter Resilienz. Eine tragende Rolle spielt dabei das Erleben von Schönheit – in der Musik oder an einem Menschen. Hier verdichtet sich die ganze Vieldeutigkeit des Lebens, in dem das Schöne einen dazu bringt, auszuhalten, was nicht auszuhalten ist.« (Julia Schröder, Deutschlandfunk)
Alles in allem geht es dem Autor um das immerwährende Lebensthema: Dem Erringen der elterlichen Liebe. Um die Liebe des ihn so oft strafenden Vaters geht es, um die Nähe zur Mutter – um Verzeihen und Loslassen. Träume mögen dabei helfen. »›Hast du uns endlich gefunden‹, sagt die Mutter zum träumenden Erzähler, doch ihre Freundlichkeit reicht nicht bis zu ihm, und sie verschwindet.« (Schröder)
Menschsein bleibt Herausforderung – nicht nur für Edgar Selge.

EG


Helga Schubert
Vom Aufstehen

Die 1940 geborene Helga Schubert, verheiratete Helm, ist Psychologin und Psychotherapeutin, Autorin und Biografin ihres Lebens – einer Geschichte über Flucht und DDR bis hin zur Wendezeit und dem Heute.
»Vom Aufstehen« ist und meint alles: Erinnern und Sortieren, Liebeserklärung und Versöhnung mit dem Vergangenen und letztlich mit dem Alter. Lebensnah, aber nicht zu nah schildert die Autorin unglaublich einfühlsam in losen Kapiteln ihre Kindheit, das Heranwachsen in der Zerrissenheit zwischen Mutter und Schwiegermutter, die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung samt familiärer Verflechtungen und ihr Älterwerden, Erfolge und das Altsein.
Ein Leben, das von den Geschehnissen und Brüchen des 20. Jahrhunderts geprägt und mit der alleinerziehenden ehrgeizigen Mutter durchzustehen war. Über allem lag die Trauer um den Vater, der – kaum Jurist – im Krieg fallen musste. Dieser Mutter könnte Schubert das Buch gewidmet haben, denn sie ist nahezu die zentrale Figur. Sie lässt die erwachsene Tochter nicht los, während Letztere um Freisein ringt, um mütterliche Liebe und Anerkennung wirbt.
Im besten Sinne Viktor Frankls galt und gilt für die Autorin immer wieder, »Trotzdem Ja zum Leben sagen« – eben immer wieder aufstehen.
So verfügt sie trotz Überwachung im DDR-Staat über ein unerschütterliches Vertrauen in das Leben und in ihre Mitmenschen – damit über die Kraft zum Weitermachen. Nur so ist letztlich die Aussöhnung mit dem Verlust des Vaters und der Versuch einer Versöhnung mit der herben egozentrischen Mutter möglich.
Rückblickend mag die Tochter Kränkungen und traumatische Erfahrungen aufgrund ihrer sicheren Bindung zur väterlichen Großmutter überstanden haben. Diese jahrelangen engen Kontakte verhalfen ihr dazu, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu bewältigen. Die geliebte Großmutter – ihr wunderbarer, bleibender Ruhepol, ein Fluchtpunkt, den jeder Mensch sich wünscht und braucht, um Herausforderungen aus eigener Kraft bewältigen zu können.
Aber eines blieb: Das Ringen um mütterliche Anerkennung und Liebe. Was kann die Autorin von ihrer Mutter erwarten? Einer Mutter, die am Ende ihres wahrhaft langen 100-jährigen Lebens ihre Zuneigung für die Tochter auf merkwürdige Weise bekundet: »Ich habe drei Heldentaten vollbracht, die dich betrafen. Erstens: ich habe dich nicht abgetrieben, obwohl dein Vater das wollte. Und für mich kamst du eigentlich auch unerwünscht ... Zweitens: Ich habe dich bei der Flucht aus Hinterpommern bis zur Erschöpfung in einem dreirädrigen Kinderwagen im Treck bis Greifswald geschoben und drittens: Ich habe dich nicht vergiftet oder erschossen, als die Russen in Greifswald einmarschierten ...« (S. 216 f.)
Helga Schubert kann verzeihen und loslassen, sie endet mit den Worten: »Alles gut.«

EG


Bernhard Schlink
Olga

Der Jurist Bernhard Schlink ist als Schriftsteller nicht alltäglicher Kriminalromane bekannt und dann durch besondere, aktuelle Themen aufgreifende Nichtkriminalromane. Manchmal scheint die Grenze fließend zu sein. Im Jahr 1944 geboren, schrieb er neben seiner Berufstätigkeit, nach seiner Motivation befragt, antwortete Schlink in einem Interview: »Ich schreibe aus demselben Grund, aus dem man auch liest: Man will nicht nur ein Leben leben.« So sieht sich jeder Leser, jede Leserin immer wieder auf ganz eigene Weise in Fragen zu Schuld, Recht und Gerechtigkeit einbezogen – auch in die kritische Auseinandersetzung mit dem Verlauf des Zeitgeschehens.
Olga – schon Name und zugleich Titel des Romans lassen Vergangenes ahnen. Olga, im Kaiserreich geboren, wird eine selbstbewusste, zielstrebige Frau, deren Leben im 20. Jahrhundert von zwei Weltkriegen bestimmt wurde. Von klein auf ist ihr Herbert am wichtigsten – eine erfüllte und zugleich unerfüllt gebliebene Liebe. Eine Frau, die als Lehrerin die Welt kritisch beobachtet, aber nie verzagt. »Eine Frau, die kämpft und sich findet, ein Mann, der träumt und sich verliert. Leben zwischen Wirklichkeit, Sehnsucht und Aufbegehren. Vom späten 19. bis zum frühen 21. Jahrhundert ...« (Diogenes), bestimmt die Weltgeschichte in Afrika oder in der Arktis Olgas Leben. In berührender, fesselnder und in kritisch nachdenklich stimmender Weise setzt der Autor den Lehrerinnen, die bis in die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts ledig bleiben mussten, und anderen hart kämpfenden Frauen wie etwa den Nähfrauen ein Denkmal.
Ein überaus lesenswertes Buch über eine ungewöhnliche, sanfte Liebesgeschichte.

EG


Tonio Schachinger
Nicht wie ihr

Böse Zungen mögen behaupten, das Thema Fußball sei literarisch wenig ergiebig. Dem soll hier nicht widersprochen werden, zumal der Rezensent ausdrücklich kein Fußballliebhaber ist. Wohl aber ist festzuhalten, dass dieser Sport für mindestens einen guten Roman taugt. Der Titel dieses Romans lautet »Nicht wie ihr«.
Der junge österreichische Autor Tonio Schachinger präsentiert mit dem Profifußballer Ivo Trifunović einen einfach gestrickten Protagonisten in einer Sprache, die, wenn sie Ivos Perspektive einnimmt, vom ersten Satz an ebenso einfach daherkommt: »Wer keinen Bugatti hat, kann sich gar nicht vorstellen, wie angenehm Ivo gerade sitzt.«
Doch soll sich niemand täuschen und Protagonist oder gar Autor unterschätzen. Ivo ist einfach, aber er ist echt. Und Schachinger versteht es geschickt, nicht nur die inhaltlichen, sondern auch die sprachlichen Ebenen abzumischen. In den gelungensten Passagen geschieht dies in ein und demselben Satz, etwa wenn es heißt: »›Du Hurenkind‹, sagt Ivo, und die Entspannung fällt von ihm ab, ›du dummes, dummes Hurenkind‹.«
Der Roman fokussiert über weite Strecken auf Ivos Verhältnis zu seiner Ehefrau Jessy und auf die Herausforderung, die es für dieses Verhältnis bedeutet, wenn Ivo nach Jahren wieder auf seine Jugendfreundin Mirna trifft. Auch dabei gelingt es Schachinger, komplexe Inhalte in einfache, aber bestechende Sprache zu fassen: »[...] Jessy holt ihn vom Flughafen ab und umarmt ihn. Sekundenlang stehen sie so da, in der Tiefgarage, und er merkt, wie wohl ihm das tut, wie er sich verändert hat, wie weit weg er war und wie nahe Jessy und er einander davor waren. Und in dem Moment, in dem er die Nähe spürt, die er vergessen hatte, vergisst er die Distanz.«
So nimmt die Geschichte ihren Lauf, und obwohl sie in einer Welt des Luxus und des Jetsets spielt, berührt sie den Leser nicht nur, sondern zwingt ihn nicht selten zu einem herzlich-mitfühlenden Lachen.
Wer sich im Vergleich mit einem jungen, emporgekommenen Profifußballer für etwas Besseres halten mag, der wird durch diesen Roman auf subtile Weise eines Besseren belehrt. Und wer auch nur ein einziges Buch zum Thema Fußball lesen möchte, dem sei »Nicht wie ihr« von Tonio Schachinger empfohlen. Der knapp über 300 Seiten lange Roman ist Schachingers Erstlingswerk und stand im Jahr 2019 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

IK


Delia Owens
Der Gesang der Flusskrebse

Der Roman von Delia Owens, aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. »Ein schmerzlich schönes Debüt, das eine Kriminalgeschichte mit der Erzählung eines Erwachsenwerdens verbindet und die Natur feiert.«, so die New York Times und nach Denis Scheck »Ein Schmöker, aber einer mit literarischen DNA. Ein Debüt, das durch unvergessliche Naturschilderungen besticht.« (Tagesspiegel, 15.09.19).
»Der Gesang der Flusskrebse« – ein ungewöhnlicher Titel, der aber nahelegt, dass der Roman am Fluss, einem Marschland spielt – in Wald und Wasser, Wildnis und Natur. Dort in Nordamerika leben entwurzelte Familien, die fernab jeglicher Kultur und Zivilisation ihr Dasein fristen. Es geht um das Kind, später die Jugendliche und dann junge Frau Kya Clark, die als Autodidaktin zu einer Spezialistin der Flora und Fauna des Marschlands wird und Anerkennung erlangt – nur unterstützt durch einen Jugendfreund aus der ihr nicht zugänglichen Welt. Allerdings ist die Wertschätzung keine ungeteilte, denn das Marschmädchen ist vielen ob seiner Lebensweise – seit Kindheitstagen völlig allein in der Wildnis lebend – suspekt. Als dann ein junger Mann aus dem nahe gelegenen Ort Barkley Cove ermordet aufgefunden wird, ist für die Einwohner klar: Es kann nur das mittlerweile erwachsene Marschmädchen gewesen sein.
Einssein mit der Natur, Erfolg und Misserfolg, Liebe, Misstrauen und Hass erlebt der Lesende mit der Protagonistin. Sie sucht ihren Weg und verblüfft mit dem Wie ihre Leser und Leserinnen. Ein spannender, unterhaltsamer, leicht lesbarer Roman, der uns zeigt, wie nachhaltig uns die Kindheitsmuster prägen. Er zeigt vor allem auch, dass es immer hilfsbereiter, mitfühlender Menschen bedarf, die wie hier die heranwachsende Kya unterstützen und damit Raum für ihr Aufwachsen und die entstehende Liebe zwischen Kya Clark und ihrem Jugendfreud schaffen.
Die Not der Marschleute, deren Verlassenheit, deren Lebensunfähigkeit und deren aus Not geborene Verantwortungslosigkeit den eigenen Kindern gegenüber, aber ebenso deren Überlebenswille kontrastieren mit der Einzigartigkeit des Marschlands: Der Vielfalt der Flusstiere und der Muscheln, der Pflanzen und etwa der Vögel.
Ich schließe mich den oben genannten Kritiken an und ende mit der Empfehlung von Elke Heidenreich: »Ein ganz wundervolles Buch, eines der schönsten Bücher, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Ein einzigartiges Buch.« (Elke Heidenreich, WDR 4, 30.09.19)

EG


Alexander Oetker
Rue de Paradis

Alexander Oetker, Kenner und Liebhaber Frankreichs, hat etliche unterhaltsame, im französischen Milieu spielende Krimis publiziert. Unter dem Pseudonym Alex Lépic lässt er etwa den einen Kommissar Lacroix kurzweilig in Paris ermitteln. Dagegen vertraut Alexander Oetker seinem anderen Kommissar Luc Verlain in einer großen, flutbedingten Katastrophe an der Westküste Frankreichs.
Entlang der Rue de Paradis eines kleinen Ortes auf der wahrlich paradiesischen Halbinsel Cap Ferret besitzt eine kleine Gemeinschaft Häuser. Ebenso steht dort die Villa des Bürgermeisters – an der Spitze des Caps. Regelmäßige Sturmwarnungen werden in der Rue de Paradis zwar – wenn auch mit zwiespältigen Gefühlen – beachtet, aber nicht als besorgniserregend eingestuft.
Aber an einem 12. März spätabends geschieht es: Ein gewaltiger Sturm rollt auf das Cap Ferret zu, Paris erlässt Sturmwarnungen bis hin zur Räumungsaufforderung des Küstenstreifens. Es geschieht nichts.
Und so bricht über die Menschen in der Rue de Paradis eine Flutwelle herein, die die kleine Straße unter sich begräbt – bis auf das am Ende der Straße höher gelegene Haus des Bürgermeisters. Eine Düne hat nicht standgehalten. Nun ist nicht nur der Tod einer Bewohnerin zu beklagen, sondern fast vielmehr, dass alle Bewohner dieser Straße auf höchste Weisung umgesiedelt werden. Wut und Streit sind entbrannt, denn der Bürgermeister kann bleiben, obwohl jeglicher Hausbau an der Küste gesetzwidrig war und ist.
Diese aufgeheizte Stimmung soll, wenige Monate später – aus Bordeaux kommend, der junge Kommissar und werdende Vater Luc Verlain schlichten, die Bewohner der Straße zur Umsiedlung motivieren. Aber für alle völlig überraschend überrollt eine zweite, riesige Flutwelle die Rue de Paradis und zerstört das letzte Haus, die Villa des Bürgermeisters. Er selbst treibt tot im Wasser.
In dieser Katastrophe ist auf Hilfe oder Verstärkung von außen nicht zu hoffen.
Der Kommissar muss der Todesursache nachspüren und gegebenenfalls auch einen Mord aufklären. Allein? Nein – der Leser oder die Leserin begleiten ihn natürlich bei der allmählichen Aufklärung des Geschehens, klar ist schnell: Der Bürgermeister wurde erschlagen. Die Leser durchleben, wie die wenigen infrage kommenden Täter nach und nach ihre Geheimnisse preisgeben. Immer wieder stellt sich die Frage: Who has done it? – also ein klassischer sogenannter Whodunit-Krimi? Alles ist miteinander verwoben, keiner ist vermeintlich ohne Schuld. Hier schnell zu schlussfolgern, wie der unsympathische, unbedarfte Vorgesetzte des Kommissars es tut, hilft da nicht.
Bald gelingt es dem jungen Kommissar, den Mord für den Lesenden nicht nur schrittweise aufzuhellen. Sondern er klärt zudem die Identität und das Motiv des Mörders und – zu guter Letzt – ergibt sich eine akzeptable Lösung für die obdachlosen Menschen.
Gerade noch rechtzeitig zur Geburt seines Kindes schafft es Luc Verlain, wieder in Bordeaux zu sein.
»Rue des Paradis« – ein kleiner, gelungener, leicht lesbarer Krimi, ein Lesevergnügen für wenig Zeit, kurzweilig und anregend – zudem vor aktuellem Hintergrund.

EG


Ian McEwan
Abbitte

Kürzlich stieß ich auf eine Zusammenstellung lesenswerter Bücher, der besten Romane des 21. Jahrhunderts – Ian McEwans »Abbitte« war darunter. Der Roman erschien bereits 2002 im Diogenes-Verlag, ein überaus lesenswertes Buch.
Der bekannte britischer Autor Ian McEwan blättert die Zeitgeschichte beginnend im Jahr 1935 im beschaulichen sommerlichen England auf, thematisiert das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen verschiedener Gesellschaftsschichten, die Not der Heranwachsenden, wenn sich die Eltern entziehen. Am Beispiel der 13-jährigen Briony Tallis erlebt der Lesende, wie sie auf unfassbare, tragische Weise das Leben der ihr liebsten Menschen auf kindlich-trotzige Art nahezu zerstört. Ein Übriges erledigt der Zweite Weltkrieg ...
Der Roman beginnt mit einem familiären Paradies, das Leben fließt zehn Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg dahin, jeder auf dem für ihn in der Gesellschaft vorgesehenen Platz. Die einsetzende Pubertät versetzt Briony in Verwirrung, verunsichert sie maßlos und lässt sie gar an dem verzweifeln, was sie an sich liebenden jungen Erwachsenen wahrnimmt. Alleingelassen, gefangen in ihrer kleinen, naiven Welt erleben wir sie als unerbittlich, jede und jeder verdient für sein Tun eine gerechte Strafe. Auch ihr Jahre später unternommene Versuch um Versöhnung erlöst die Beteiligten nicht; versöhnt aber den Lesenden, weil er die tiefe Reue der Protagonistin erkennt und darüber hinaus begreift, dass niemals etwas zurückgenommen werden kann.
Der Roman »Abbitte« ist Teil der Weltliteratur – so befindet etwa die bekannte Schriftstellerin Ursula März. »... Der Autor, ohne Zweifel für die Rezensentin ein Meister der hohen, aber abgründigen Erzählkunst, hat sich hier sogar noch übertroffen. ›Abbitte‹, in dem es um die fatale und gleich mehrere Biografien zerstörende Lüge einer 13-Jährigen geht, hält März für ›das literarisch interessanteste‹ und ›komplexeste‹, was McEwan bisher geschrieben hat. Einiges an diesem Roman erinnere an Emily Brontes ›Sturmhöhe‹, und mit Sicherheit wird auch das Liebespaar Robbie und Cecilia, das die 13-jährige Briony mit ihrer Lüge ein Leben lang zu trennen weiß, Eingang in den ›Olymp der großen Liebesgeschichten der Literatur‹ finden, ist die Rezensentin überzeugt. McEwan ist mit diesem Roman ›strahlend‹ in der Weltliteratur angekommen, verkündet März ...« (Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 09.10.2002, im Internet aufgerufen am 14.12.2021)
Ja – ein kleines Juwel.

EG


Alex Lépic
Lacroix und die stille Nacht von Montmartre

Alex Lépic hat einen leicht lesbaren, ungewöhnlichen Krimi vorgelegt – aus dem Herzen von Paris im weihnachtlichen Schnee. Unter Alex Lépic verbirgt sich der deutsche Autor Alexander Oetker. 1982 in Ost-Berlin geboren, lässt er – aufgrund seiner Nähe und Liebe zu Frankreich, seiner vielen dortigen Aufenthalte – Kommissar Lacroix in Paris ermitteln.
In seinem Band »Lacroix und die stille Nacht von Montmartre« wird das weihnachtliche Paris lebendig. Lacroix, Kommissar eines unteren Pariser Bezirks, wundert sich über den überaus ungewöhnlichen Schneefall zu Weihnachten, wundert sich bei der morgendlichen Zeitungslektüre noch mehr über eine Notiz zum Diebstahl der vollständigen Weihnachtsbeleuchtung auf dem Place du Tertre, dem Herzstück Montmartres. Lacroix liest wieder, wägt ab und beschließt ahnungsvoll, den Tatort aufzusuchen. In dichtem Schneefall steigt er auf den Montmartre hinauf – siehe da, die absolut komplette Weihnachtsbeleuchtung ist gestohlen – möglicherweise nichts Besonderes, aber für Lacroix scheint mehr dahinter zu stecken. Allerdings ist der Montmartre der Bezirk seiner Kollegin Rose Violet. Aber als am nächsten Morgen auch noch der riesige Weihnachtsbaum von Sacré-Coeur fachmännisch gefällt am Boden liegt, möchte Lacroix gern ermitteln und bietet der über die Störung der weihnachtlichen Ruhe wenig erfreuten Kollegin seine Hilfe an. Beide Kommissare beginnen auszuloten, tippen auf Weihnachtsgegner und tappen zunächst im Dunkeln. Dann geschieht ein Mord, der die Ermittler schließlich auf die richtige Spur bringt. Aber ist die Lösung dieses Weihnachtsfalls ohne Begegnung mit Madame Lacroix, Bürgermeisterin eines Arrondissements, ohne die besondere Atmosphäre des strahlend weihnachtlichen Paris und ohne den Bruder von Kommissar Lacroix, einem Geistlichen in der Kirche Sainte-Clotilde, möglich?
Ein kurzweiliges Lesevergnügen mit viel Pariser Charme in der stillen Nacht von Montmartre.

EG


Mariana Leky
Was man von hier aus sehen kann

Dieser Roman von M. Leky ist gleichsam ein sympathischer, einfühlsamer Gast eines Nachmittags. Ein gelungener Nachmittag, denn es ist ein irgendwie aufmunterndes, liebenswertes Buch, eines, das eventuell trösten kann – denn: Alles wird gut!
Leicht und locker kommt der Text daher, skurril und manchmal geradezu naiv – so scheinen die Westerwälder zu sein. Leky schildert die 80-jährige Westerwälderin Selma, deren besonderen, ja einzigartigen Status in der überschaubaren Dorfgemeinschaft. Träumt sie von einem Okapi, dann stirbt am folgenden Tag einer aus dem Dorf. Aber wer? Die nächsten 24 Stunden sind für die Dörfler schier unerträglich.
Es geht um Liebe und Vertrauen, um Unerfülltes und Trauriges, um Banales und Bodenständiges. Wir erleben das Aufwachsen der Erzählerin Luise und Enkelin der Selma. Wir teilen das wenige Wissen über deren unorthodoxen Vater, deren aushäusige Mutter, über den quasi allwissenden Optiker, der seine unerfüllte Liebe zu Selma vor sich herträgt – und so weiter und so weiter.
Das dörfliche Leben ist so weit weg von der Realität, dass wir uns der Neugierde der Bewohner überlassen mit deren teilweise etwas ungelenker Sprache, über deren Aberglauben schmunzeln und Skurriles miterleben. Welch eine Welt, in der jeder jedem hilft, sich kümmert und auf eine ganz spezielle Art seinen Frieden findet – immer tröstend dabei der große, graue Hund Alaska, der viele, viele Hundeleben zu haben scheint.
Der Rezensent Jörg Magenau dürfte es in der Süddeutschen Zeitung vom 23. Juli 2017 auf den Punkt bringen: »Die Freude am Repetitiven und am Erwartbaren, das dann aber doch im letzten Moment in eine Überraschung umschlägt, hat [...] eher kindliche Qualitäten. Die sinnspruch-haften Weisheiten, die nebenbei produziert werden und für die vor allem der Optiker zuständig ist, klingen ein wenig wie aus dem Poesiealbum. Das alles spricht aber keineswegs gegen diesen sorgfältig konstruierten Roman, denn – und das ist ja das Schöne an Kinderbuchlandschaften – es ist eine ganz und gar unspießige Gegenwelt, in der die Menschen einander helfend zur Seite stehen und sich in ihren Eigenarten und Skurrilitäten gelten lassen.«

EG


Martin Kordic
Jahre mit Martha

Martin Kordic, in Deutschland geboren und ein Kenner der sozialen Integration und deren Hindernisse, nimmt den Lesenden gefangen.
Mit diesem Buch hat er einen Roman vorgelegt, der überaus positiv beurteilt wird – mit welch unterschiedlichen Bezeichnungen: Brutale Abrechnung mit der Gesellschaft, elegant, empathisch, Zärtlichkeit, gesellschaftskritisch, coming-of-age, sexuell, Ausbeutung und Begehren, Brillanz, herrliche Sprache.
Was ist das Besondere an »Jahre mit Martha« – an dem in Deutschland geborenen Jungen Željko Draženko Kovacevic, der nicht immer über seine kroatische Herkunft stolpern möchte und sich Jimmy nennen lässt? Um ihn, der aus äußerst einfachen Ludwigshafener Verhältnissen kommt, geht es in den späten 90er-Jahren, im Sommer seines Erwachsenwerdens. Seine Eltern sind Zuwanderer aus Kroatien, der Vater unter anderem Hausmeister einer kleinen Kirchengemeinde in Ludwigshafen, die Mutter putzt dort und auch bei Martha Gruber.
Eine irgendwie leise Sexualität durchzieht nicht nur diesen Roman, der Autor beginnt ihn auch damit – eine erste für Martha überaus peinliche Begegnung mit Jimmy bei ihrem Toilettenbesuch.
Die wesentlich ältere Heidelberger Professorin Martha Gruber eröffnet dem 15-jährigen Jungen in jeder Hinsicht die Welt, sie verkörpert das von ihm Ersehnte: Bücher, Bildung und Souveränität. Vorsichtig nehmen die beiden eine intensive, später auch sexuelle Beziehung auf. Martha unterstützt Jimmy in jeder Hinsicht, als Studenten weiterhin finanziell, sie wird und bleibt seine große Liebe.
Im Studium gerät der junge Mann bald in einen sonderbaren Kontakt zu dem an seiner Universitätsfakultät lehrenden Literaturprofessor Alex Donelli – durch diesen wird er zwar irgendwie gefördert, zugleich aber in unlauterer Weise ausgenutzt. Als Jimmy diesen Professor schließlich ein einziges Mal bitten muss, sich für ihn einzusetzen, lässt er ihn, möglicherweise auch infolge erneuter intensiver Begegnungen mit Martha, kommentarlos fallen.
Das Besondere an »Jahre mit Martha« mag darin liegen, quasi mit Jimmy Željko dessen Erwachsenwerden mitzuerleben, denn der Autor lässt ihn erzählen: Über ein »Kind von Eltern, die irgendwann einmal hierherkamen und sich an nichts festhielten als an ihren Körpern und an ihren Träumen«; darüber, dass Željko sich selbst seine Geschichte erzählen will, weil er »die Irrwege [seines] jungen Erwachsenenlebens in eine Dramaturgie sortieren will, die auf ein versöhnliches Ende zusteuern soll« (S. 15).
So schafft Željko es, sich endlich ein ihn zufriedenstellendes Leben aufzubauen. Jahre nach seinem Studienabschluss lässt er sich zum Gärtner ausbilden. Hatte man ihm nicht schon früher als vermeintlichem Ausländer geraten, Gärtner zu werden? Als solcher kann er – so ergibt es sich – seine große Liebe auf dem letzten Weg begleiten.
Ein lesenswertes Buch!

EG


Colleen Hoover
Finding Perfect

In der Reihe New Adult, Young Adult ist der kleine, 110 Seiten starke Roman erschienen. Colleen Hoover ist eine 1979 in Texas geborene US-Amerikanerin, Bestsellerautorin und zählt zu den nachgefragtesten Autoren der USA und vermutlich nicht nur dort. Mit ihrem Abschluss in Social Work dürfte ihr das Thema dieses Romans am Herzen liegen, denn als Sozialarbeiterin kennt sie vermutlich Höhen und Tiefen ungewollter Schwangerschaft und das weite, überaus schwierige Feld der Adoption eines Kindes. Und darum geht es hier.
Zwei einander unbekannte noch nicht Zwanzigjährige feiern, haben Sex auf einer Party in Texas und gehen auseinander. Bald danach absolviert die Jugendliche Six einen langen Italienaufenthalt und lernt dann, gut ein Jahr später, Daniel kennen und lieben. Beide stellen überrascht fest, sie trafen sich bereits – und es hatte für Six ungeahnte Folgen, denen Daniel zunächst sprachlos gegenübersteht.
Die Autorin thematisiert einfühlsam die zwiespältigen Gefühle der jungen Leute: Plötzlich Eltern sein, jung zu sein, solch ein Geheimnis und dazu die Abgabe des Kindes an italienische Adoptiveltern verkraften zu müssen, um dann, völlig überraschend für beide, eine intensive Sehnsucht nach ihrem kleinen, perfekten, jedoch unerreichbaren Sohn zu verspüren – Finding Perfect.
Daniel ist besonders ratlos und frustriert, was heißt unerreichbar? Hier bedeutet es inkognito – Kontaktsperre, weil Six in Italien in eine Inkognito-Adoption ihres Kindes einwilligte. Denn wie nur soll sich eine junge Mutter, völlig allein, entscheiden? Für das Kind oder es weggeben? Wenn Letzteres – will sie die künftigen Adoptiveltern kennenlernen oder soll alles inkognito bleiben? Wie auch das Adoptionsverfahren abgelaufen sein mag, es wird im Dunkeln gelassen, immerhin erfuhr die junge Six Hilfe.
Spürbar ist das Anliegen der Autorin, einen ganz besonderen Schwerpunkt zu setzen. Sie möchte junge Menschen für die emotionale Seite eines überaus komplizierten Adoptionsverfahrens sensibilisieren und gibt daher Antworten, die sicher nicht dem wahren Leben und dem Rechtsweg entsprechen. Aber dennoch weist sie Jugendlichen einen Weg, der für sie und dem Wohl ihres Kindes hilfreich sein könnte.
Denn, wenn die Beteiligten im Falle eines Adoptionsverfahrens für sich und für das Kind eine gute Lösung erreichen möchten, könnte es möglicherweise bedeuten, eine für alle offene Adoption anzustreben.

EG


Norbert Gstrein
Der zweite Jakob

Dieses Buch des 1961 geborenen österreichischen Autors war preisverdächtig, es stand nicht nur auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2021, sondern fand auch in der Kritik überwiegendes Lob, ein spannendes, »atemberaubendes« Buch.
Carsten Otte, SWR 2, befindet: »Der zweite Jakob« von Norbert Gstrein sei »ein mitreißender Roman über den verzweifelten Versuch, sich der eigenen Herkunft und einer beschämenden Biografie zu entledigen«.
Man ahnt es schon: Jeder Lesende muss sich auf den Ich-Erzähler einlassen – eine anstrengende Einlassung. Wer sich also etwas fordern mag, mag dem irgendwie skurrilen Leben der Innsbrucker Hauptfigur Jakob Thurner folgen. Er, nun nahezu 60 Jahre alt und eher zufällig Schauspieler geworden, überzeugt besonders in der Rolle eines Mörders. So wird er zunehmend auch in internationalen Film-Settings gebucht, denn – er entpuppt sich als der Spezialist in der Rolle eines Frauenmörders. Nicht nur das: Er veruntreut geerbtes Geld, das seine Großmutter ausdrücklich für seinen bedürftigen Onkel Jakob (den Ersten) gedacht hatte, und lebt auf großem Fuße. Von beidem weiß seine Tochter Luzie nichts.
Dieser ungewöhnliche allein lebende Typ möchte nun wie immer seinem Geburtstag entfliehen und lädt seine erwachsene Tochter ein. Aber Letztere entzieht sich. Überdies plant seine steirische Heimat eine Feier anlässlich seines 60. Geburtstags und ein Verlag möchte seine Biografie herausgeben. Ein bisschen viel auf einmal – der Jubilar fühlt sich bedrängt. Immer neue Fragen der Tochter und das Insistieren des Biografen werfen den Ich-Erzähler fast aus der Bahn. Unaufhaltsam muss er sich dem, was er getan oder vielmehr unterlassen hat, stellen. Fragen zu einer Lebensschuld lassen ihn nicht los, vor allem die Frage der Tochter »Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?«. So befördern ihre vielen Fragen, ihre ständige Anwesenheit bei den biografischen Interviews die dramatische Entwicklung der Handlung. Er sieht sich mit seiner Vergangenheit konfrontiert und damit mit Dreharbeiten an der Grenze der USA zu Mexiko in den achtziger Jahren, mit der Not der Bevölkerung und der Not am Filmset. Infolge von Eifersucht und Querelen wird der Protagonist unter anderem in einen schrecklichen Unfall verstrickt – über den aber nie gesprochen wurde. Was aber erfährt der Biograf? Wie geht es weiter im Leben des zweiten Jakobs?
Leserin und Leser dürfen gespannt sein. Der Autor N. Gstrein stellt sich immer wieder die Frage, »ob man die Schuld, die einer im Laufe seines Lebens auf sich lädt, durch das Erzählen einholen kann«. Auf alle Fälle deutet sich an, dass der damit eingeschlagene Weg der richtige sein könnte.
So gelingt es Vater und Tochter, mit der Rückkehr in das väterliche Heimatdorf zueinander zu finden. Die Tochter stellt sich dem Erwachsenensein und der Vater kann sich mit seinem (früheren) Leben versöhnen – nicht zuletzt mit seinem alten Onkel: dem ersten Jakob.

EG


Bonnie Garmus
Eine Frage der Chemie

Im Alter von 60 Jahren hat die Autorin diesen, ihren ersten, Roman veröffentlicht. Welch ein Buchtitel, wird er Fragen aufwerfen? Sicherlich – denn der Roman spielt in der Mitte des 20. Jahrhunderts, es geht um das Frau-Sein, um eigene informierte Entscheidungen, um ein selbstbewusstes und selbstbestimmtes Leben, um Frauenkarrieren in den 1950er/1960er-Jahren, um ein bestimmtes – wenn auch reduziertes – Männerbild und massive Gesellschaftskritik.
Dieses Buch über Elisabeth Zott ist ein besonderer Gast im Lesealltag: Uns begegnen eine junge Frau, ein junger Mann, ein erfolgloser, alleinerziehender TV-Produzent und deren kleine miteinander befreundete Töchter. Irgendwie charmant, oft witzig, ironisch vermittelt die Autorin einen leicht durchschaubaren Plot (für manche Kritiker kitschig), aber der Roman trifft schmerzhaft die wunden Punkte jener Zeit – zwischen Männern und Frauen – auch wenn die Autorin sie überzeichnen mag. Aber so war es und zum Teil kann es heute noch so sein, man denke an die #MeToo-Debatte.
Die Protagonistin Elisabeth ist eine kluge, couragierte, diplomierte Chemikerin und Wissenschaftlerin in den USA. Man spürt beim Lesen förmlich die unsichtbare sexistische Glasdecke, an die sie im Arbeitsalltag ständig gestoßen wird ebenso wie die permanente sexuelle Belästigung, Gewalt.
Für Elisabeth bleibt das Nicht-ernst-genommen-werden, das anzügliche Hinterfragen ihres Werdegangs, zumal sie nach dem plötzlichen frühen Tod ihres Lebensgefährten auch noch eine ledige Mutter wird, eine Qual. Denn einer wie ihr darf man Forschungsergebnisse stehlen, ihr unterstellen, dass sie lediglich durch und von ihrem renommierten Partner profitierte – ja, sie kämpft permanent gegen die gesellschaftlich akzeptierte Auffassung, nur die bessere Hälfte in einer Beziehung (gewesen) zu sein.
Die solcherart gedemütigte Protagonistin durchlebt mit ihrer intelligenten kleinen Tochter gruselige Zeiten im Forschungsinstitut, die sie nicht länger akzeptieren kann. Sie kündigt und nimmt eine nachmittägliche Kochsendung im Fernsehen an. Ein glücklicher Neustart des glücklosen TV-Produzenten um Einschaltquoten. Gesundes Kochen ist in der Tat eine Frage der Chemie. Klug, niveauvoll, couragiert, distanziert und auf eine Weise weltfremd – so lieben sie schnell die Zuschauer und Zuschauerinnen bis hin zum US-Präsidenten. Sie referiert dabei im wahrsten Sinne des Wortes über weibliche Berufschancen, gesundheitliche Aspekte oder übt dabei Gesellschaftskritik.
Es ist ein lesenswertes, unterhaltendes Buch – wirklich ein besonderer Gast im Lesealltag. Zumal sich zu guter Letzt für Mutter und Tochter völlig neue Wege eröffnen, denn der Roman endet »Mit einem heitern, einem nassen Aug’«.

EG


Jostein Gaarder
Das Orangenmädchen

Wer sich Jostein Gaarder zuwendet, erfährt, dass Lesen bereichern und glücklich machen kann. Der Osloer Autor lehrte unter anderem Philosophie an Schulen. Er fasziniert durch seine besondere Sicht auf uns Menschen und die Welt – versteht es, junge und ältere Menschen anzusprechen.
»Das Organgenmädchen« ist keine Neuerscheinung, hat aber seit seinem Erscheinungsjahr 2003 nichts von seiner einnehmenden, anziehenden Art verloren. Diese Liebesgeschichte, die jedes Lesealter anspricht, wurde im Juli 2004 zum Jugendbuch des Monats, im November 2004 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
Es geht um den 15-jährigen Georg, um seine Familie, seine Mutter, die kleine Schwester, den Stiefvater und die Großeltern. Georg ist eindeutig die Hauptperson, aber sein vor mehr als elf Jahren verstorbener Vater ist es auch. Beider Leben verschränkt Jostein Gaarder auf unnachahmliche, geradezu zärtliche Weise. Kurz vor seinem Tode bat Georgs Vater darum, noch nicht mit dem kleinen Georg über Tod und Sterben zu sprechen, denn dazu müsse dieser zwölf oder 14 Jahre alt sein, im Übrigen verfügte er, dass die rote Kinderkarre in der Garage immer aufzuheben sei.
Wie es der Zufall will, sucht die väterliche Großmutter nach etwa elf Jahren etwas und stößt dabei in der roten Kinderkarre auf einen dicken, vom Vater an Georg adressierten Brief. Von Emotionen überwältigt, bestimmt der Junge, die vielen, vielen Blätter – die Geschichte des Orangenmädchens – allein lesen zu wollen. Der wartenden Familie wird unendliche Geduld abverlangt, aber Georg trifft sich in den Zeilen mit seinem Vater, lernt ihn und seine Mutter ganz neu kennen und wird immer wieder zum Nachdenken verführt.
Grundthema des kleinen Romans dürfte die Unabdingbarkeit der Liebe sein: Die Liebe des Vaters zu seinem Sohn, die große Liebe seines Vaters –- Georgs Mutter, die Liebe zum Leben überhaupt, zum Miteinander, zum Dasein. Vor allem spricht der verstorbene Vater mit seinem nun 15-jährigen Sohn. Wir treffen auf eine Geschichte, die beider Leben umfasst. Finden Vater und Sohn zueinander? Was verbindet die beiden? Das Orangenmädchen – seine Geschichte zieht sich wie ein roter Faden durch die Aufzeichnungen des Verstorbenen. Als Student und von Selbstzweifeln geplagt sucht er beharrlich nach der jungen Frau, der er einmal half, viele Orangen aufzuheben – Georgs Mutter.
Der heranwachsende Georg lebt mit und in dieser Geschichte, so wird im Verlaufe der Zeit aus den Aufzeichnungen seines Vaters und seinen eigenen Erinnerungen etwas Ganzes.
»Das Orangenmädchen«: ein Leseerlebnis – schon für junge Menschen ab 13.

EG


Jenny Erpenbeck
Gehen, ging, gegangen

In Jenny Erpenbeck, 1967 in Ostberlin geboren und dort aufgewachsen, begegnen wir einer Schriftstellerin und Theaterregisseurin mit etlichen bedeutenden Auszeichnungen.
»Gehen, ging, gegangen« – ein Buchtitel, der nicht unbedingt leicht und gleich zum Lesen einlädt. Aber wenn, dann macht die Annäherung den Lesenden immer neugieriger – aber worauf – auf Raum und Zeit, auf Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges? Ja, er möchte wissen, wieso und warum der gerade pensionierte Altphilologe Richard sich mit den in Berlin gestrandeten Flüchtlingen befasst.
Für Richard – allein lebend – gibt es nichts zu tun, so fällt er gehend quasi über die im Jahr 2015 am Berliner Oranienplatz campierenden Afrikaner. Andererseits kommen die Flüchtlinge von weit her – gestrandet und haben ebenso nichts zu tun, sehen keine Perspektive. Weltfremd nähert sich der Pensionist diesen mit wissenschaftlicher Gründlichkeit. Er, ein Gutmensch, ein Helfender, ein Gutgläubiger, begleitet einige der Gestrandeten, vertraut ihnen – in mancher Hinsicht gleichen sie sich: der oft naiv anmutende Helfer und die naiven, von westlicher Lebensart überforderten, aber gewitzten Hilfesuchenden. Gewitzt, denn der pensionierte Professor wird »um die Fichte geführt« und ausgenutzt. Dennoch profitieren beide Seiten voneinander. Gerade Richard verlässt seinen Elfenbeinturm und lernt Wege der Flucht mit dem Flüchtlingsalltag kennen. Er versucht politische Gegebenheiten nachzuvollziehen, taucht in die normative Realität Deutschlands und der EU ein. Nicht nur er, sondern auch Leser und Leserin erahnen die komplexe Welt des Ausländerrechts.
»Jenny Erpenbecks gründlich recherchierter Tatsachenroman erscheint an der Schwelle einer dramatischen Ausweitung des Flüchtlingsproblems wie der politischen Auseinandersetzung damit.« (Friedmar Apel, FAZ vom 27.8.2015). Dieses informative, gut lesbare, wunderbar authentische Buch hilft dabei, das Flüchtlingsproblem und die damit geschaffene Situation zu verstehen. Es lässt uns staunend Monate des Flüchtlingsdramas 2015 miterleben: komische und nachdenklich stimmende Situationen.

EG


Karen Duve
Fräulein Nettes kurzer Sommer

Wer einmal zurückblicken und vielen bekannten Gestalten des frühen 19. Jahrhunderts begegnen möchte, der sollte sich in das Buch vertiefen. Mit dem wunderlich anrührenden Familien- und Sittengemälde, das uns in diese nach-napoleonische Zeit blicken lässt, gilt es, sich Karen Duve anzuschließen und Nettes kurzem, aufregendem Sommer mit Zeit und Muße nachzuspüren.
Durch und über die ungemein agile, impulsive und vielseitig interessierte, nicht der Zeit angepasste und hochgradig kurzsichtige Annette Droste-Hülshoff, einem Freifräulein, erfahren wir Erstaunliches: Ihre Kutschfahrten auf den holprigen Straßen des heimatlichen Westfalen führen zu Nasenbluten, adlige Frauen dürfen nur sticken, aber neben dem Junker studiert nun auch der Bürgersohn in Göttingen – dennoch bleiben die Standesunterschiede zementiert. Große Güter brauchen Erben. Stirbt eine Adlige etwa bei der Geburt eines Kindes, kommt es schnell zur erneuten Eheschließung des Witwers. Infolge der stetig wachsenden Verwandtschaft bedarf es eines großen zeitlichen und logistischen Aufwands, um den oft lästigen und verpflichtenden Besuchsregularien mit der Kutsche zu genügen – dies in der letzten Phase der seit dem 15. Jahrhundert währenden kleinen Eiszeit mit unendlich viel Regen.
Erstaunlicherweise ging der Adel diesem Phänomen bereits nach. Könnten Sonnenflecken etwas damit zu tun haben? Mythologie und Spiritismus, Hausgeister und Althochdeutsches, Poesie und Prosa beschäftigen die jungen Leute; es werden Märchen, Sagen und alte Lieder gesammelt – vor allem natürlich für die Brüder Grimm. Wem ist gegenwärtig, dass Jakob und Wilhelm Grimm noch drei Brüder und eine Schwester hatten, die einander eng verbunden waren und in diesem Sommer nahezu Teil von Annettes Leben gewesen zu sein scheinen. Und mittendrin entwickelt sich Annettes unglückliche – da nicht standesgemäße – Liebe zu Heinrich Straube, einem armen, überaus kauzigen bürgerlichen Studenten. Annettes studierender junger Onkel August lädt ihn wie viele andere häufig auf den väterlichen Bökerberg ein. Überdies hören wir von Heinrich Heine, der damals noch Harry Heine hieß, von Hoffmann, der sich dann Hoffmann von Fallersleben nannte, es ist die Rede von Kotzebue und seinem Mörder Sand oder von Friedrich Gaus, dem unzuverlässigen Brentano und ein bisschen vom alten Goethe. Ein kleines zeitgeschichtliches, höchst informatives Kaleidoskop.
Die Autorin hat dem Roman einen erhellenden Epilog angefügt, der auf das weitere Leben der Protagonisten blickt – besonders natürlich auf das kurze der Annette von Droste-Hülshoff, das in Meersburg am Bodensee endete.

EG


Alex Capus
Léon und Louise

Der 1961 in Frankreich geborene und seit Langem in der Schweiz lebende Schriftsteller Alex Capus sammelt – so scheint es – ganz besondere historische Ereignisse, um seine Leser mit hinein in die Welt dieser Kleinode zu nehmen.
So in seinem 2011 erschienenen Roman – Capus’ Eintauchen in die Liebesbeziehung zwischen Léon und Louise ist für ihn zugleich, so ist zu lesen, sein Erinnern an die ungewöhnliche Lebensgeschichte seines Großvaters väterlicherseits.
Der kleine Roman »Léon und Louise« ist kein brandaktuelles Buch, aber ein aktuelles – in jeder Buchhandlung als Taschenbuch zu finden. Bedingt durch die beiden großen Kriege des 20. Jahrhunderts werden Léon und Louise in Irrungen und Wirrungen gestürzt. Lebendig und empathisch lässt uns der Schweizer Autor an dieser ungewöhnlichen Liebesgeschichte teilhaben, verwoben mit den gut nachvollziehbaren Geschehnissen in Frankreich.
»Unter allen Liebespaaren, glücklichen und unglücklichen, die uns die Literatur je ans Herz gelegt hat«, so K. Maidt-Zinke, Süddeutsche Zeitung (Klappentext), »sind Léon und Louise eines der originellsten und überzeugendsten Exemplare.«
Man möchte es wirklich glauben: Die Liebe überwindet alle Grenzen. Liebe verzeiht und heilt. Liebe ist einzigartig, auch wenn alles dagegen zu sprechen scheint.
Ein Mut machendes und überaus lesenswertes Buch, auch heute noch aktuell – 79 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

EG


Mechthild Borrmann
Der Geiger

Die Autorin, mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, wurde für »Der Geiger« als erste deutsche Autorin mit dem französischen Publikumspreis »Grand Prix des Lectrices« der Zeitschrift Elle ausgezeichnet. Sie ist uns auch durch bewegende zeitgeschichtliche Romane wie »Trümmerkind« und »Grenzgänger« bekannt.
Der Roman »Der Geiger« bewegt und fasziniert – spannend, aber ein Krimi? Es stellt sich diese Frage. Denn eigentlich ermittelt kein Kommissar. Familien- und Zeitgeschichte, Vergangenheit und Gegenwart bringen uns die letzten 70, 80 Jahre nahe. Im Mai 1948 spielt der russische Geiger Ilja Grenko auf seiner Stradivari sein letztes Konzert in Moskau. Er wird vom Geheimdienst verhaftet, seine Frau muss mit zwei kleinen Söhnen Moskau verlassen. Der Geiger verschwindet spurlos – ebenso die Stradivari.
Sein deutscher Enkel Sascha wird tragischer Weise auf diese Spur gestoßen. Dabei kommt der Geige, die der Familie Grenko von einem Zaren geschenkt wurde, eine zentrale Rolle in Stalins Russland und in Deutschland zu. Sie brachte und bringt die Familie in tödliche Gefahr.
Ein besonderes, spannendes Leseerlebnis, über eine Zeit, die uns oft fremd und nicht zugänglich zu sein scheint.

EG


Patientenbücherei an der Universitätsmedizin Mainz
Langenbeckstr. 1 Bau 206 Erdgeschoss, 55131 Mainz
Tel. 06131/17-2679 - Fax 06131/17-6236